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Ein Mann weniger Worte

Menschen wie ihn findet man in jeder Stadt. Heinz Spannenberger bessert sich seine Rente mit Flaschensammeln auf. Aber er will nicht klagen 

Heinz Spannenberger zieht den rechten Arm aus einem Mülleimer, seine Hand umklammert eine Bierflasche. Alle zwanzig Meter steht so ein Abfallbehälter, Spannenberger lässt keinen aus. Einmal das Gleis entlang und wieder zurück, seine Stammstrecke. Er muss schnell sein, unter Flaschensammlern ist der Bahnhof ein umkämpftes Gebiet. 

Mit zwei Dosen und der Flasche kehrt er zurück in die Reutlinger Bahnhofskneipe, pünktlich zum Anpfiff der zweiten Halbzeit. Dunkles Holz, Fliesenboden, Plastikblumen. Auf seinem Platz steht ein Glas Spezi, halb voll, abgestanden. Er verstaut seine Ausbeute in einer Einkaufstüte am Boden. Zwei sind schon gefüllt, jetzt kommt Pfand für 68 Cent dazu. Mindestens einmal am Tag kommt er in dieses Lokal, von dem er sagt, es ziehe ihn an wie ein Magnet. Weihnachten verbringt er hier, und Silvester, spielt Schach mit einem Bekannten, schaut Fußball: Bundesliga, Champions League, Weltmeisterschaft. Durch das Fenster beobachtet er das Treiben am Bahnsteig. Wirft jemand eine Flasche weg, geht er raus und nimmt sie mit. 

Nach achtundsechzig Lebensjahren mit wenigen Höhen und vielen Tiefen hatte Spannenberger sich einen unbeschwerten Ruhestand erträumt, mit Geld, das auch mal für einen Urlaub reicht, ans Meer oder nach Österreich wie früher mit der Familie. „Das war wohl nichts“, sagt er, der seine wenigen Worte nicht zum Jammern verschwendet. 

An seiner Stelle ließen sich tausend ähnliche Geschichten erzählen, die davon handeln, im Alter am Rand der Gesellschaft zu stehen. Menschen wie Spannenberger finden sich in jeder Stadt. Rentner, die Flaschen sammeln und am Monatsende um ein paar Euro betteln. Die meisten Passanten schauen weg. Weil niemand gern sieht, was passiert, wenn man den Halt verloren hat. Manchen kosten ihre Stürze so viel Kraft, dass sie in der letzten Lebensphase zu wenig davon übrig haben.

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erschienen in der taz