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Europa im Keller

Im Ausland wird Nicoleta Esinencu für ihre kritischen Theaterstücke geschätzt, in ihrer Heimat, der Republik Moldau dagegen kaum beachtet. Trotzdem bleibt sie. Und schreibt ein Stück für Stuttgart.

Feuchtkalte Dunkelheit füllt den Raum. Hier werden gleich die Proben beginnen. Nun Stromausfall, und das zur Mittagszeit. Mit einer Taschenlampe leuchtet Nicoleta Esinencu auf ein abgeklebtes Fenster, durch dessen Spalt ein Kabel in den Keller führt. Mit drei Schauspielern und einer Assistentin versucht sie, wieder für Strom und damit für Licht und Ton zu sorgen. Hochbetrieb auf zwanzig Quadratmetern. Ein Darsteller verlegt Kabel quer durch den Raum, der andere werkelt an der Bühne herum, Esinencu bespricht sich mit einer Kollegin. Es scheppert und quietscht, dann ein „Klack“, und eine Lampe taucht den Raum in fahles Licht. Notstrom vom Hauptgebäude, der Theaterakademie Chişinău in der Hauptstadt Moldawiens.

Betonwände im Halbdunkel, die tiefe Decke, der abgekratzte Putz. Dieser Ort heißt, wie er aussieht: Bunker. Hier zeigt Nicoleta Esinencu derzeit ihr aktuelles Stück „Recviem pentru Europa“, Totenmesse für Europa. „Wenn wir bei der Aufführung auch keinen Strom haben, müssen wir improvisieren“, sagt sie. Ihre 39 Jahre alte Stimme klingt kratzig, immer schwingt ein wenig Berufsironie mit. Die Schauspieler lachen. Sie kennen das schon, Räume, in denen der Strom und im Winter die Heizung ausfällt. Theater made in Moldova.

Die Dramatikerin gastiert regelmäßig in Deutschland, Österreich, Frankreich, Schweden, das Publikum schätzt sie für ihre kritische Haltung, ihre zornig-ehrlichen Texte. In ihrer Heimat, der Republik Moldau, ist Esinencu froh, wenn sie überhaupt einen Raum für ihre Arbeiten findet. Den Bunker muss die Gruppe sofort nach den Vorstellungen, Punkt 21 Uhr, verlassen. Für den Applaus kehren die Schauspieler nicht auf die Bühne zurück, es kostet zu viel Zeit. „Die Akademie mag uns nicht besonders“, sagt Esinencu, die selbst hier studiert hat, wieder mit einem grimmigen Lächeln.

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erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung