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Unter Alten

Der Pflegeberuf leidet unter seinem miserablen Image. Doch die Wenigsten wissen, wie die Arbeit im Seniorenheim tatsächlich aussieht. Ein Selbstversuch. 

Kurz vor sechs Uhr morgens sehe ich das Gespenst zum ersten Mal. Lautlos gleitet sie an mir vorüber, die hagere, alte Frau im knöchellangen Nachthemd, mit weißem Haar und einem Tunnelblick, als schwebe sie in Trance. Es ist Frau Jonas – draußen dämmert der Tag, Schichtbeginn im Pflegeheim, alle anderen Bewohner schlafen noch, nur sie ist schon wach. Die 80-Jährige leidet an schwerer Demenz, erklärt der Pfleger neben mir. Ihr Bewegungsdrang, dieses Herumgeistern, ist typisch im fortgeschrittenen Stadium. 

Mit dem Älterwerden habe ich mich bislang nie befasst – vielleicht mit Absicht. Niemand setzt sich gern mit dem körperlichen Verfall auseinander. Den Pflegeberuf habe ich mir deshalb immer frustrierend vorgestellt. Dazu: schlechte Bezahlung, Überlastung, Personalnot. Ich will herausfinden, wie es tatsächlich ist, und mache ein sechstägiges Praktikum in einem privaten Pflegeheim in München. Ein Bekannter hat mir die Tür geöffnet. Er leitet eine von drei Etagen dort, Wohnbereiche genannt. Für die Mitarbeiter und Bewohner bin ich einfach nur die Neue, die reinschnuppert. Ihre Namen sind deshalb anonymisiert. 

Meine neuen Kollegen heißen mich freundlich willkommen. Niemanden überrascht es, ein neues Gesicht zu sehen, zu viele Pfleger sind gekommen und gegangen. Zwölf kümmern sich derzeit um einundvierzig Senioren, sie wechseln sich in drei Schichten ab. Ihre Abläufe funktionieren automatisch. Niemand hat Zeit, mir etwas zu erklären. Also schaue ich vorerst zu, decke den Tisch und verteile das Frühstück.

Tags darauf bekomme ich eine Spezialaufgabe: Frau Jonas. Das Gespenst vom Vortag. Einst war sie Dolmetscherin für Russisch, heute fordert sie besondere Fürsorge. Das heißt: viel Zeit, die kein Pfleger hat. Aber nun ist die Neue da – ich soll ein Auge auf sie haben. Frau Jonas nimmt bloß noch Breikost zu sich, aber nur wenn sie gefüttert wird. Inzwischen ist sie so schwach, dass sie sich kaum auf den Beinen halten kann. Dennoch ist sie von früh bis spät unterwegs, die Unrast ihrer Demenz. Die hat sich rasant verschlimmert. Sie müsste rund um die Uhr betreut werden, doch dafür hat das Heim zu wenig Personal. 

[…]

erschienen in der Passauer Neuen Presse

Die Reportage belegte den dritten Platz des Dr.-Georg-Schreiber-Medienpreises.